Sozialauswahl. Bei diesem Wort werden viele Arbeitgeber und Personaler sofort nervös. Zu Recht! Hier werden bei betriebsbedingten Kündigungen in der Praxis die meisten Fehler gemacht. Und schon der kleinste Fehler kann den Arbeitgeber in Bedrängnis bringen – sowie eine hohe Abfindung kosten. Wenn das nicht Gründe genug für Sie als Betriebsrat sind, betriebsbedingte Kündigungen und insbesondere die Sozialauswahl genau unter die Lupe zu nehmen. Schließlich geht’s um die Arbeitsplätze Ihrer Kolleginnen und Kollegen.
21.000 €: So teuer kann Vergesslichkeit sein
Beispiel: Zwei Mitarbeiter sind in Ihrer Werbeabteilung beschäftigt: Ein Kollege ist seit 10 Jahren in Ihrem Betrieb dabei und verdient 4.200 € brutto. Eine Kollegin arbeitet seit 12 Jahren in der Firma und nimmt 3.600 € brutto an Gehalt mit nach Hause. Im Rahmen der Sozialauswahl entscheidet sich der Arbeitgeber dem Kollegen betriebsbedingt zu kündigen, weil der die kürzere Beschäftigungszeit hat. Dabei übersieht der Arbeitgeber, dass der Kollege, den er entlassen möchte, vier Kinder hat. Die Kollegin mit der längeren Beschäftigungszeit dagegen ist kinderlos.
Folge: Ein grober Fehler in der Sozialauswahl, den der Arbeitgeber im späteren Kündigungsschutzprozess nur noch durch die Zahlung einer Abfindung beheben kann, wenn er den Kollegen, dessen Kündigung er plant, nicht weiter beschäftigen möchte. Und die beträgt in diesem Fall rund 21.000 €.
Fehlerhafte Sozialauswahl: So berechnen Sie die Abfindung
Meistens wird bei einer unwirksamen Kündigung aufgrund einer fehlerhaften Sozialauswahl die Regelabfindung fällig. Und die berechnet sich laut Bundesarbeitsgericht (BAG) nach dieser Faustformel:
Brutto-Monatsgehalt x Beschäftigungsjahre / 2
Klar, diese hohe Abfindung bringt Ihrer Kollegin oder dem Kollegen den Arbeitsplatz nicht zurück. Die betriebsbedingte Kündigung können Sie als Betriebsrat aber auch nicht verhindern. Was Sie aber können, ist im Rahmen des Anhörungsverfahrens der Kündigung zu widersprechen.
Das ist möglich, wenn der Arbeitgeber bei der Auswahl der zu kündigenden Kolleginnen und Kollegen soziale Gesichtspunkte
- nicht oder
- nicht ausreichend
berücksichtigt hat (§ 102 Abs. 3 BetrVG).
In diesem Fall muss der Arbeitgeber Ihren Widerspruch seinem Kündigungsschreiben beifügen. Klagt die Kollegin oder der Kollege anschließend gegen die Kündigung, kann sie bzw. er beantragen, dass das Arbeitsverhältnis bis zum endgültigen Ende des Kündigungsschutzprozesses zu unveränderten Bedingungen weiterbesteht – auch wenn der Arbeitgeber in solchen Situationen meist freistellt.
Mein Tipp als Betriebsratsanwalt: Haben Sie an der vom Arbeitgeber durchgeführten Sozialauswahl Zweifel, sollten Sie als Betriebsrat unbedingt darauf achten, der Kündigung rechtzeitig, also innerhalb einer Woche, und formell wirksam durch einen Betriebsratsbeschluss zu widersprechen. Dann muss das Arbeitsverhältnis fortgesetzt werden. Das heißt: Die Kollegin oder der Kollege wird weiter bezahlt – selbst wenn der Arbeitgeber die Kollegin oder den Kollegen freistellt.
So einfach kontrollieren Sie die Sozialauswahl
Es sind nur 4 Kriterien, anhand derer die Sozialauswahl zwischen mehreren vergleichbaren Kolleginnen und Kollegen durchgeführt werden muss, bevor der Arbeitgeber entscheiden kann, wem er kündigt und wem nicht. Und das sind:
Nur diese 4 Kriterien spielen eine Rolle
Kriterium Nr. 1: Dauer der Betriebszugehörigkeit
Kriterium Nr. 2: Lebensalter
Kriterium Nr. 3: Unterhaltspflichten
Kriterium Nr. 4: Schwerbehinderung des Mitarbeiters.
4 Kriterien, aber die haben es in sich
Die Frage, die sich Ihnen als nächstes stellt, ist natürlich: Wie sind die 4 Kriterien untereinander zu gewichten. Die Antwort: Dabei hilft wieder das Bundesarbeitsgericht (BAG). Die Arbeitsrichter haben nämlich ein Punkteschema entwickelt, um genau diese Gewichtung vorzunehmen (BAG, Urteil vom 5.12.2002, Aktenzeichen: 2 AZR 549/01).
Schnelle Hilfe: Mit diesem Punkteschema prüfen Richter die Sozialauswahl
1. Betriebszugehörigkeit
bis 10 Jahre
ab dem 11. Jahr
pro Jahr 1 Punkt
pro Jahr 2 Punkte
Berücksichtigt werden nur Dienstjahre bis zum vollendeten 55. Lebensjahr. Maximale Punktzahl: 70 Punkte.
2. Lebensalter
pro vollendetes Lebensjahr
1 Punkt
Maximale Punktzahl: 55 Punkte.
3. Unterhaltspflichten
verheiratet
pro unterhaltsberechtigtes Kind
8 Punkte
4 Punkte
4. Schwerbehinderung
Erwerbsminderung
bis 50 %
über 50 % je weitere 10 % Erwerbsminderung
.
5 Punkte
1 Punkt
Je mehr Punkte Ihr Mitarbeiter hat, desto stärker ist sein Schutz vor einer betriebsbedingten Kündigung.
Wichtiger Hinweis: Die Anwendung dieses Schemas befreit den Arbeitgeber allerdings nicht davon, eine anschließende individuelle .berprüfung (so genannte abschließende Prüfung) der Sozialauswahl vorzunehmen. Nur so können etwaige unbillige Härten ausgeschlossen werden.
Eine unbillige Härte ist etwa bei
- einem Arbeits- oder Betriebsunfall oder
- einer Berufskrankheit der Fall.
Um daher im Einzelfall unbillige Härten zu vermeiden, muss in jedem Fall abschließend noch eine individuelle Überprüfung der Sozialauswahl vorgenommen und Sie als Betriebsrat im Rahmen des Anhörungsverfahrens darüber informiert werden.
Auswahlrichtlinie: So helfen Sie mit, die Sozialauswahl sicherer zu machen
Unsicherheit bei der Sozialauswahl: Das ist völlig normal. Schließlich kommt es in Ihrem Betrieb nicht jeden Tag zu einer betriebsbedingten Kündigung. Keine Sorge! Es gibt nämlich eine Lösung, die die nächste Sozialauswahl bombensicher macht. Und Sie als Betriebsrat sind Teil dieser Lösung.
Um Schwierigkeiten bei der Sozialauswahl zu vermeiden, sollten Sie mit Ihrem Arbeitgeber möglichst kurzfristig eine Auswahlrichtlinie in Form einer Betriebsvereinbarung festlegen (§ 95 BetrVG).
Mein Tipp als Betriebsratsanwalt: Damit beugen Sie als Betriebsrat vor, dass einer Kolleginnen oder einem Kollegen trotz hoher sozialer Schutzwürdigkeit gekündigt wird.
Wichtiger Hinweis: In diese Richtlinie können Sie nur die 4 Grundkriterien der Sozialauswahl aufnehmen. Allerdings haben Sie die Möglichkeit, sich mit Ihrem Arbeitgeber darüber zu einigen, wie die Kriterien Betriebszugehörigkeit, Lebensalter, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung im Rahmen der Auswahlrichtlinie zu gewichten sind.
Ein weiterer Vorteil ist, dass die Arbeitsgerichte in einem Streitfall die anhand dieser Auswahlrichtlinie vorgenommene Sozialauswahl nur noch auf grobe Fehlerhaftigkeit überprüfen können. Das gilt auch für die Auswahlrichtlinie selbst.
Schnell-Check: So prüfen sie, ob der Arbeitgeber grob fahrlässig gehandelt hat
Ihr Arbeitgeber verstößt grob fahrlässig gegen die Auswahlrichtlinie, wenn
- das grundsätzliche Verfahren, die Konzeption oder den Beurteilungsbogen nicht eingehalten wurden oder
- die 4 Kriterien der Sozialauswahl teilweise oder vollständig nicht beachtet wurden oder
- es an der Ausgewogenheit bei der Gewichtung dieser Kriterien fehlt oder
- sachfremde, anderweitige Kriterien in die Auswahlrichtlinie aufgenommen wurden oder
- eine willkürliche Ungleichbehandlung Ihrer Mitarbeiter vorliegt.
Ein einziges „Ja“ reicht und Ihr Arbeitgeber hat grob fahrlässig gegen die Auswahlrichtlinie verstoßen.
Stand (04.07.2022)