Nie war es so schwer, einen Arbeitsunfall auf den ersten Blick zu erkennen, wie jetzt. In vielen Fällen müssen die Gerichte entscheiden. So wie in diesem Fall, in dem eine Kollegin nur kurz ihre Tabletten holen wollte.
Handgelenk gebrochen: Kein Arbeitsunfall
Der Fall: Die seinerzeit 60-jährige Kollegin trat an einem Tag im Juli 2020 kurz vor 6 Uhr morgens ihre Frühschicht in einer Näherei an. Zu ihrem Arbeitsplatz war sie mit ihrem Pkw gefahren und hatte diesen in der Nähe des Betriebs auf einem öffentlichen Parkplatz abgestellt. Gegen 9:30 Uhr bemerkte sie, dass sie die von ihr regelmäßig einzunehmenden Epilepsie-Tabletten in ihrem Auto vergessen hatte. Da ihre Schicht erst gegen 11 Uhr enden sollte, ging sie zu ihrem Auto, um die Tabletten zu holen. Auf dem Rückweg zur Arbeit stürzte sie auf einem Fußweg und brach sich das rechte Handgelenk. Die Berufsgenossenschaft lehnte es ab, dieses Ereignis als Arbeitsunfall anzuerkennen.
Das Urteil: So ist es auch richtig, fanden die zuständigen Richter in Berlin. Die Einnahme von Medikamenten gehört nicht zu den arbeitsvertraglichen Pflichten, sondern ist dem nicht versicherten, persönlichen Lebensbereich zuzuordnen. Hätte die Kollegin mit der Einnahme der Epilepsie-Tabletten bis zum Schichtende gewartet, wäre ihre Arbeitsfähigkeit nicht gefährdet gewesen. Das jedenfalls meinte der behandelnde Arzt der Kollegin. Besteht ein bloß abstraktes Risiko, dass es ohne die regelmäßige Einnahme der Tabletten während der Arbeitszeit zu einem Epilepsie-Anfall komme, so liege die Einnahme vorrangig im privaten Interesse und damit im nicht gesetzlich unfallversicherten Bereich (LSG Berlin-Brandenburg, am 29.10.2024 veröffentlichtes Urteil vom 26.09.2024, L 21 U 40/21).
So einfach kann es anders laufen
Fast schon wie eine Entschuldigung klang, was die Berliner Richter der Kollegin noch mit auf den Weg gaben: Danach kann ein den Versicherungsschutz auslösendes, überwiegendes betriebliches Interesse dann bestehen, wenn vergessene Gegenstände geholt würden, die zwingend benötigt werden, um die Arbeit fortzusetzen.
Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) etwa
- für das Holen einer Brille oder
- des Schlüssels für einen Spind
bejaht.
Ebenso habe das BSG entschieden, dass der Weg zum Mittagessen während einer vollschichtigen beruflichen Tätigkeit grundsätzlich versichert ist. Dies sei dadurch begründet, dass erst die Nahrungsaufnahme die Arbeitsfähigkeit auch für den Nachmittag sicherstelle. Diese Wertung lasse sich aber nicht auf das Holen vergessener Tabletten übertragen, wenn deren Einnahme nicht zwingend erforderlich sei, um die Arbeit fortzusetzen.
Stand (25.11.2024)

