Schwerbehinderte Kolleginnen und Kollegen haben einen Anspruch auf stufenweise Wiedereingliederung nach dem „Hamburger Modell“. Und sie können diesen Anspruch gegenüber dem Arbeitgeber notfalls auch im Wege eines einstweiligen Verfügungsverfahrens durchsetzen. Selbst dann, wenn der Renteneintritt kurz bevorsteht.
Wiedereingliederung kurz vor der Rente?
Seit 46 Jahren war ein schwerbehinderter Kollege (GdB von 90) schon bei seinem Unternehmen beschäftigt. Dann wurde ein Hirntumor diagnostiziert. Deshalb war der Verkaufs- und Vertriebsleiter unter anderem bis zum 10.04.2024 nicht fahrtüchtig. Im Oktober 2024 soll der Kollege in seine wohlverdiente Rente gehen.
Die Arbeitgeberin weigerte sich allerdings, den Mann, nachdem die Krankheit Ende Januar erfolgreich therapiert war, auf der Grundlage eines ärztlichen Wiedereingliederungsplanes nach dem Hamburger Modell weiter zu beschäftigen.
Deshalb beantragte der Arbeitnehmer, seine Arbeitgeberin per einstweiliger Verfügung zu verpflichten, ihn ab Mitte März nach dem Hamburger Modell zu beschäftigen. Das sollte einen knappen Monat lang für zwei Stunden pro Arbeitstag und dann anschließend für vier bzw. später sechs Stunden geschehen. Das Unternehmen verweigerte dies jedoch mit dem Hinweis, dass es keine sinnvollen Aufgaben gäbe, die bei einer Arbeitszeit von zwei oder vier Stunden täglich zu erledigen wären. Außerdem sei eine Fahrbefähigung für einen Verkaufs- und Vertriebsleiter eine Voraussetzung, die vertraglich geschuldete Tätigkeit erbringen zu können.
Schwerbehinderte Kolleginnen und Kollegen haben ein Recht auf eine zeitnahe Wiedereingliederung
Das Arbeitsgericht Aachen gab dem schwerbehinderten Kollegen jedoch Recht und erließ eine einstweilige Verfügung, mit der sich die Wiedereingliederung sofort umsetzen lässt. Als Begründung führte das Gericht an, dass es bei schwerbehinderten Beschäftigten zu den typischen Nebenpflichten des Arbeitgebers gehöre, eine Rückkehr an den Arbeitsplatz nach dem Hamburger Modell zu ermöglichen.
Die fehlende Fahrtüchtigkeit spielte dabei für die Richter keine große Rolle. Solange auch eine andere Beschäftigung, wie zum Beispiel Büroarbeiten, ausgeübt werden können, muss die Arbeitgeberin bei der stufenweisen Wiedereingliederung schwerbehinderter Kolleginnen und Kollegen mitwirken, insbesondere da das Unternehmen eine gesteigerte Pflicht hat, Tätigkeiten unter Berücksichtigung seiner Schwerbehinderung zuzuweisen (§ 164 Abs. 4 S. 1 SGB IX).
Schnelle Eingliederung ist erforderlich
Das Arbeitsgericht erklärte zudem, dass schwerbehinderte oder gleichgestellte Arbeitnehmer eine Wiedereingliederung auch im einstweiligen Verfügungsverfahren durchsetzen können. Die notwendige Eilbedürftigkeit entstehe aus dem Beschäftigungsinteresse der schwerbehinderten oder gleichgestellten behinderten Person, welches aufgrund ihres Anspruchs auf Teilhabe am Erwerbsleben aus § 164 Abs. 4 SGB IX grundsätzlich dem Interesse des Arbeitgebers überwiegt. Daran ändere insbesondere auch der bevorstehende Renteneintritt, auf den die Arbeitgeberin verwies, nichts. (Arbeitsgericht Aachen, Urteil vom 12.03.2024, 2 Ga 6/24).
Der Arbeitgeber muss sofort mitwirken
Die Entscheidung ist nicht nur richtig, sondern auch wichtig: Schwerbehinderte Kolleginnen und Kollegen haben ein Recht auf eine zeitnahe Wiedereingliederung, der sich auch von heute auf morgen mit einer einstweiligen Verfügung durchsetzen lassen muss. Denn nur so ist der Arbeitgeber oder Dienstherr zur sofortigen Mitwirkung verpflichtet und kann das Verfahren nicht unnötig verschleppen.
Dafür gibt’s gleich zwei gute Gründe:
- Schwerbehinderte Kolleginnen und Kollegen haben das Recht, am Erwerbsleben teilhaben zu dürfen (§ 164 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 SGB IX).
- Zögert der Arbeitgeber mit der Eingliederung zurück in das Erwerbsleben, kann das den Anspruch der Kollegin oder des Kollegen auf eine zeitnahe Umsetzung des „Hamburger Modells“ vereiteln oder zumindest verzögern
5 Schritte: So funktioniert das Hamburger Modell
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| Schritt Nr. 1 | Zunächst setzt sich Ihre Kollegin oder Ihr Kollege mit seinem behandelnden Arzt zusammen und entwickelt einen Stufenplan, der sich am Genesungsfortschritt orientiert. | |
| Schritt Nr. 2 | Nach diesem Stufenplan richtet sich die Wiedereingliederung Ihrer Kollegin oder Ihres Kollegen in den Betrieb. | |
| Schritt Nr. 3 | Die Bescheinigung des behandelnden Arztes muss konkrete Angaben machen, wie die Wiedereingliederung zu erfolgen hat. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Arbeitsstunden und der Arbeitstage, die Ihre Kollegin oder Ihr Kollege zunächst wieder beschäftigt werden sollen. | |
| Schritt Nr. 4 | Ihr Arbeitgeber oder Dienstherr stimmt den Start in die Wiedereingliederung und deren Dauer mit der Krankenkasse Ihrer Kollegin oder Ihres Kollegen ab. | |
| Schritt Nr. 5 | Sobald Ihre Kollegin oder Ihr Kollege nach dem Plan seine Tätigkeit im Betrieb wieder aufnimmt, kann dies zunächst auch nur für wenige Stunden am Tag erfolgen und dann langsam gesteigert werden. |
Der Weg zum EU-Schwerbehindertenausweis und Parkausweis ist frei!
Einen weiteren Schritt für den gleichberechtigten Zugang behinderter Menschen innerhalb der EU hat am 24. April 2024 das EU-Parlament getan, als es mit großer Mehrheit für die Richtlinie zur Einführung des Europäischen Behindertenausweises stimmte.
Mit dem Ausweis sollen Menschen mit Behinderungen Zugang zu denselben Vergünstigungen und Nachteilsausgleichen erhalten wie die Bürger und Bürgerinnen des Landes, in das sie reisen. Damit stellt das EU-Parlament sicher, dass die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht an nationalen Grenzen enden.
Wichtig: Diese Rechte gelten nicht nur im privaten Bereich, sondern erst recht für berufliche Belange. Damit werden Dienstreisen ins Ausland für Ihre schwerbehinderten Kolleginnen und Kollegen wesentlich einfacher.
Auch Parkerleichterungen sind eingeschlossen
Sie können als Schwerbehinderte damit demnächst einen EU-weit gültigen Behindertenausweis und auch einen Parkausweis erhalten. So soll bei Reisen ein gleichberechtigter Zugang zu Sonderkonditionen wie reservierte Parkplätze oder ermäßigte Eintrittspreise gewährleistet werden.
Den neuen EU-Schwerbehindertenausweis soll es als Plastikkarte und in digitaler Form geben und ist kostenlos, solange keine Ersatzkosten durch Verlust oder Beschädigung entstehen. Bis zur Umsetzung in nationales Recht der EU-Staaten werden jedoch leider noch mehrere Jahre vergehen.
Stand (28.05.2024)

